Das Ising-Modell - gestern und heute
S. Kobe
(Prof. Dr. Sigismund Kobe, Professur für Theorie ungeordneter
Festkörper, Technische Universität Dresden, D-01062 Dresden)
Am 11. Mai 1998 - einen Tag nach
Vollendung seines 98. Lebensjahres - starb
der Physiker und Lehrer Ernst Ising in
seinem Haus in Peoria/IL (U.S.A.). Das nach
ihm benannte Modell gilt als Standardmodell
der Statistischen Physik und nimmt als solches
in der Geschichte der Theoretischen Physik
in diesem Jahrhundert einen wichtigen Platz
ein. Heute wird es vielfach zur Beschreibung und
Computersimulation von geordneten und ungeordneten
komplexen Systemen in verschiedenen Wissenschaftsgebieten
angewendet.
Historisches
Wolfgang Pauli antwortete auf eine Anfrage von
H.B.G. Casimir, der während des zweiten Weltkrieges
von den aktuellen Entwicklungen in der Theoretischen Physik
abgeschnitten war, was denn in dieser Zeit auf diesem Gebiet
wissenschaftlich passiert sei:
"Nicht so viel Interessantes ... außer Onsagers exakter Lösung
des zweidimensionalen Ising-Modells" [1].
Dabei hatte Pauli die Entwicklung dieses Modells
in seinen Anfängen aus nächster Nähe
mitverfolgen können, denn er wurde 1922
"wissenschaftlicher Hilfsarbeiter" bei Wilhelm
Lenz in Hamburg. In dieser Zeit hatte Lenz
seinem Studenten Ernst Ising die Aufgabe gestellt,
die von ihm schon 1920 in Rostock entwickelte Idee
von einer mikroskopischen Beschreibung des
Ferromagnetismus [2] mathematisch auszuarbeiten.
Isings Doktorarbeit und die nachfolgende Publikation [3]
behandelten den eindimensionalen Fall. Er fand,
daß für diesen kein Phasenübergang
bei endlichen Temperaturen existiert.
Aus diesem Grund und wegen
der wenig später von Werner Heisenberg
entwickelten quantenmechanischen Beschreibung
des Ferromagnetismus blieb das Modell eine
zeitlang unbeachtet. Der Name "Ising-Modell" wurde
vermutlich durch Rudolf Peierls geprägt, der 1936
eine Arbeit unter dem Titel "On Ising's Model of
Ferromagnetism" veröffentlichte. Mit der
Betrachtung des zweidimensionalen
Falles begründete er die weitere Entwicklung,
die schließlich zu Onsagers Lösung führte.
Ernst Ising, ca. 1925
Ernst Ising im Alter von 95 Jahren mit Ehefrau
Johanna (94) im März 1996 in Peoria, USA (Foto: S. Kobe)
Über die Biographie des als Sohn jüdischer Eltern
1900 in Köln geborenen und bis 1939 in
Deutschland lebenden Ernst Ising ist an anderer
Stelle berichtet worden [4].
Ising, der ein leidenschaftlicher Lehrer war
und der als Professor für Physik an der Bradley
University in Peoria auch für seine exzellenten
Vorlesungsversuche bekannt geworden ist,
war von der Resonanz auf das Modell, das seinen
Namen trägt, überwältigt. In der ihm eigenen
Bescheidenheit schrieb er 1994 an den Autor:
"Ich weise gern darauf hin, daß das Modell
eigentlich Lenz-Ising-Modell heißen sollte. Mein
Lehrer, Dr. Wilhelm Lenz, hatte die Idee ...".
Das Modell
Die Lenzsche Idee zur Erklärung der spontanen
Magnetisierung einer ferromagnetischen
Substanz ging von der Vorstellung aus, daß die
magnetischen Momente der Atome nur zwei
entgegengesetzte Einstellungen haben können und
eine potentielle Energie zwischen Nachbarn existiert,
die eine Parallelstellung begünstigt [2].
Etwas allgemeiner wird das Ising-Modell
heute durch die folgende Annahmen
definiert:
Ein System bestehe aus vielen
gleichartigen Elementen und jedes Element
sei in der Lage, nur zwei diskrete Zustände
einzunehmen, also entweder "auf" oder "ab",
"plus" oder "minus", "null" oder "eins",
"lachend" oder "weinend"... Zwischen
den Elementen existiert eine paarweise
Wechselwirkung dergestalt, daß sich die
Einstellung eines Elements nach
derjenigen seines Partners richtet (Abb. 1). Für das
System entsteht dann ein Zustand kollektiver
Ordnung, der für T=0 durch den Grundzustand der
Hamiltonfunktion des Ising-Modells

beschrieben wird. Dabei bezeichnet Si den
Zustand des Elements i und Jij die Stärke der
Wechselwirkung. Insbesondere wird häufig der Fall
betrachtet, dasßß sich die Si auf Gitterplätzen
befinden und die Summation in (1) nur über alle
benachbarten Paare i und j geführt wird.
Mit der Größe

- der Magnetisierung oder allgemeiner dem
Ordnungsparameter - läßt sich der
Ordnungszustand des Systems beschreiben.
Im Formalismus der Statistischen
Physik nimmt die Ordnung
mit zunehmender Temperatur ab, und der
Wert des Ordnungsparameters verringert sich.
Bei einer bestimmten Phasenübergangstemperatur TC
geht das System vom geordneten
zum ungeordneten Zustand über.

Abb. 1: Beim Ising-Modell kann jedes Element nur zwei Zustände einnehmen.
Die Wechselwirkung bevorzugt die Parallelstellung gekoppelter Paare für
J>0 (oben) bzw. die Antiparallelstellung für J>0 (unten).
(Grafik: R. Kobe)
Phasenübergang und kritische Phänomene
Bis zum Beginn der vierziger Jahre war
nicht klar, ob es mit dem Formalismus
der Statistischen Physik überhaupt möglich
ist, Phasenübergänge zu beschreiben.
Zu diesem Zeitpunkt hatten unabhängig
voneinander mehrere Autoren herausgefunden,
dasßß sich für Systeme mit Wechselwirkungen
zwischen nächsten Nachbarn
die Zustandssumme asymptotisch aus
dem größten Eigenwert einer sogenannten
Transfer-Matrix gewinnen läßt.
Kramers und
Wannier hatten erkannt, daß sich das
zweidimensionale Ising-Modell auf einem
quadratischen Gitter mit Jij=J wegen
seiner Einfachheit besonders
gut als Objekt der Untersuchungen eignet [5].
Sie entdeckten, daß die Transfer-Matrix
bei einer Transformation von
hohen zu tiefen Temperaturen invariant
bleibt und schlossen aus den
Symmetrieeigenschaften dieser
Transformation auf den exakten Wert
von TC. Darauf aufbauend lieferte
Lars Onsagers die exakte und
vollständige Lösung des Problems [6].
Damit war erstmals der Nachweis
erbracht, daß bei der
Phasenübergangstemperatur
Singularitäten in den thermodynamischen
Funktionen auftreten. Allerdings gelang
es bisher nicht, das Ising-Modell in zwei Dimensionen
unter Einbeziehung eines äußeren Feldes
oder in höheren Dimensionen exakt zu lösen, obgleich es
inzwischen mittels Näherungsverfahren
und Computersimulationen gelang,
auch hierfür sehr genaue Werte für TC
zu bestimmen (Tab. 1).
Thermodynamische Größen zeigen bei
Annäherung an TC ein kritisches Verhalten.
Dieses ist gekennzeichnet durch ein
Potenzgesetz der Form

mit
als kritischen Exponenten.
Dessen Wert hängt von der betrachteten
thermodynamischen Größe A und ggf.
auch davon ab, ob man sich TC von
höheren oder von tieferen Temperaturen
aus annähert. Allerdings sind die kritischen Exponenten
nicht unabhängig voneinander, sondern müssen
bestimmte Skalengesetze befriedigen.
Da man für das zweidimensionale
Ising-Modell die kritischen
Exponenten exakt angeben kann, läßt
sich die Gültigkeit der Skalengesetze
nachprüfen (vgl. Tab. 2).
Imitation und Kooperation
Das Ising-Modell wurde zur Beschreibung
des Ferromagnetismus entwickelt,
lä:ßt sich aber in der Physik
auf unterschiedliche Probleme anwenden.
Am bekanntesten ist seine
Isomorphie mit dem Gittergasmodell:
Die Plätze eines Gitters können entweder
mit Atomen besetzt oder unbesetzt sein.
Nur benachbarte besetzte Plätze
unterliegen einer (anziehenden)
Wechselwirkung gleicher Stärke.
Aber auch in vielen anderen
Wissenschaftsgebieten gibt es
analoge Fragestellungen, für die sich
mit dem Ising-Modell die Möglichkeit
eröffnet, komplexe Sachverhalte in
vereinfachter Form einer mathematischen
Behandlung zu erschließen. Betrachtet man z.B.
Tierherden, Vogel- oder Fischschwärme, so
wird das Prinzip der sozialen Imitation
sichtbar. Offenbar richtet sich das Verhalten
eines Individuums nach dem seiner Nachbarn.
Das Ergebnis ist ein - biologisch vorteilhaftes -
Erscheinungsbild einer ganzen Gruppe.
Man denke auch an die
Bildung von "la ola" auf den Rängen
eines Fußballstadions. Callen und Shapero
haben durch Einfährung der Abstraktion
"Ising-Fisch", der nur nach zwei entgegengesetzten
Richtungen schwimmen kann, eine Theorie
der sozialen Imitation bei Fischschwärmen
vorgeschlagen [7]. In analoger Weise wurde das
Ising-Modell auch zur mathematischen Beschreibung
von Erscheinungen der Kohärenz auf
Kapitalmärkten herangezogen [8].
Schließlich sei noch ein Beispiel aus der
Biologie erwähnt. Die Ionenkanäle in
Membranen können entweder geöffnet oder
geschlossen sein. Auch in diesem Fall
beoachtet man kooperative Phänomene
dergestalt, daß der Zustand eines Ionenkanals
von den Zuständen der benachbarten Kanäle
beeinflußt wird [9].
Frustration und Unordnung
Das Ising-Modell läßt sich auf vielfältige
Weise erweitern, z.B. hinsichtlich der
Reichweite der Wechselwirkung über die
nächsten Nachbarn hinaus, Verdünnung der
Wechselwirkungen oder der Gitterplätze
bis zur Perkolationsgrenze, Annahme von
p>2 diskreten Zuständen pro
Element (Potts-Modell).
Benutzt man für die Wechselwirkungsstärken Jij
in (1) negative Werte, so erhält man ein
Modell für den Antiferromagnetismus, bei
dem die antiparallele Ausrichtung benachbarter
Elemente bevorzugt wird. Für den Fall, daß
nächste Nachbarn eines Elements selbst
nicht wieder zueinander nächste Nachbarn
sind wie z.B. bei einem kubisch-raumzentrierten
Gitter, läßt sich das Problem auf den
entsprechenden ferromagnetischen
Fall zurückführen. Andernfalls haben wir
es mit einem neuen Effekt zu tun, der mit
Frustration bezeichnet wird:
Das System ist nicht in der Lage, den
Grundzustand einzunehmen, der alle
Wechselwirkungen gleichzeitig befriedigen
würde. Physikalische Konsequenzen
der Frustration werden z.B. beim
antiferromagnetischen Dreiecksgitter
offensichtlich [10]: Der Grundzustand
ist hochgradig entartet, und es existiert
kein Phasenübergang bei endlichen Temperaturen.
In den letzten zwanzig Jahren wurden
Modelle für Spingläser intensiv untersucht,
für die das gleichzeitige Vorliegen von
Frustration und Unordnung charakteristisch ist.
Hierzu benutzt man das Ising-Modell
unter der Annahme, daß die Wechselwirkungen
Jij zwischen nächsten Nachbarn entweder
einer Gauß-Verteilung genügen oder stochastisch
und gleichverteilt die Werte +J und -J
besitzen. Im Gegensatz zum geordneten
Ising-Modell wird in diesen Fällen die Bestimmung
des Grundzustandes, d.h. das Auffinden
des Minimums von (1) bei vorgegebenem
Satz der Jij, zu einem komplizierten
mathematischen Problem der nichtlinearen
diskreten Optimierung, das sich
für endliche Systeme nur numerisch lösen läßt.
Vermutlich muß dieses Problem sogar der Klasse
der NP-harten Probleme (non-polynomial)
zugerechnet werden, d.h.
der numerische Aufwand der
Lösungsalgorithmen wächst stärker als polynomial mit der
Anzahl N der Elemente (siehe auch Abb. 2).
Analytische Zugänge und Näherungslösungen
werden für das Sherrington-Kirkpatrick-Modell
diskutiert, bei dem man von einer vollständigen
Vernetzung aller Elemente und einer
Gauß-Verteilung der Jij ausgeht.


Abb. 2b: Schema der 98710 Zustände niedrigster Energie
(Grundzustände der Energie E0 sowie alle Zustände der
ersten und zweiten Anregungsenergien E1 und E2) des
Systems von Abb. 2a. Die Größe der Kreisflächen ist
proportional zur Menge der Spinkonfigurationen, die entweder durch einen
Ein-Spin-Flip oder durch eine sukzessive Folge von Ein-Spin-Flips
auseinander hervorgehen. Links ist die Skalierung des Maßstabs für
die unterschiedlichen Anregungsniveaus angegeben. Zwei Kreisflächen
sind dann miteinander verbunden, wenn es mindestens eine Möglichkeit
gibt, von einer Spinkonfiguration der einen Menge durch einen Ein-Spin-Flip
zu einer Spinkonfiguration der anderen Menge zu gelangen (nach: T. Klotz,
S. Kobe, acta phys. slovaca 44 (1994) 347).
Die Untersuchungen zum Spinglas-Zustand
mit Hilfe des Ising-Modells haben die
Modellbildung anderer komplexer Systeme
mit Frustration und Unordnung nachhaltig
beeinflußt. Am bekanntesten ist das Hopfield-Modell [11]
für künstliche neuronale Netze, dessen
Formulierung auf der Basis des Ising-Modells im
Jahre 1982 einen starken Impuls auf die
Entwicklung eines neuen interdisziplinären
Wissenschaftszweiges ausübte, den man heute
unter dem Begriff Neuroinformatik zusammenfaßt.
Mit den Modellannahmen von vernetzten
Neuronen, die zweier Zustände ("ruhend" oder
"feuernd") fähig sind, und synaptischen
Kopplungen mit den Eigenschaften "Verstärkung"
bzw. "Hemmung" der Eingangssignale ist es
möglich, Informationen zu speichern. Für den Prozeß
der Einprägens werden Lernregeln benutzt, die
die Stärken synaptischen Kopplungen und damit
die Grundzustände des Netzes festlegen.
Das Wiedererkennen gelernter Informationsinhalte
- z.B. nach Eingabe verrauschter Muster -
erfolgt über Relaxationsprozesse.
Erwähnt seien weiterhin Beziehungen zu
Modellen für Proteine, bei denen
polare bzw. hydrophobe Aminosäuren
aufgrund ihrer unterschiedlichen Wechselwirkung
bei Kontakten miteinander die kompakte
Struktur des gefalteten Proteins bestimmen.
Schließlich ist es naheliegend, daß das Ising-Modell
mit Frustration und Unordnung auch zur
Beschreibung von sozialen, politischen
und ökonomischen Strukturen herangezogen
werden kann.
So benutzt z.B. Kohring ein Modell für die
Meinungsbildung in einem
Zwei-Parteien-System [2].
Dabei wird die Zugehörigkeit des Individuums
zu einer der Parteien
durch die Variable Si gekennzeichnet.
Die Wechselwirkungsparameter Jij beschreiben, wie überzeugend
das Individuum j auf i
wirkt, d.h., ob es j gelingt,
i von einem Meinungswechsel abzuhalten,
wenn es zur gleichen Partei gehört wie j, oder es umzustimmen,
wenn es zur anderen gehört.
Ein ökonomisches System besteht ebenfalls aus
einer großen Zahl von wechselwirkenden Elementen
und enthält vielfach Aspekte von Frustration und Unordnung.
Mit Hilfe der Methoden der Statistischen
Physik hat sich in jüngster Zeit
ein neuer Wissenschaftszweig unter der
Bezeichnung "Econophysics" entwickelt [13].
Schlußbemerkung
Das Ising-Modell beschreibt in einfachster
Weise Systeme mit Wechselwirkung und läßt
sich daher auf Probleme anwenden,
bei denen Einteilchen- und Quasi-Einteilchen-Modelle versagen.
Es gehört zu den
wenigen Modellen der Statistischen Physik,
mit denen Phasenübergänge exakt beschreiben
lassen. Seine gegenwärtige
Bedeutung ergibt sich aus der Möglichkeit
der Diskussion von Grenzfällen bei komplizierteren
Modellen der Quantenstatistik, der Anwendbarkeit
für Computersimulationen und der
Vielfalt von möglichen Modellerweiterungen.
Letztere haben zunehmend zur
Mathematisierung komplexer Fragestellungen in
vielen Bereichen der Wissenschaft geführt.
[1] E.W. Montroll, Physics Today, Februar 1977, S. 77
[2] W. Lenz, Phys. Zeitschrift 21, 613 (1920)
[3] E. Ising, Zeitschrift f. Physik 31, 253 (1925)
[4] S. Kobe, Phys. Bl., Mai 1995, S. 426 und
J. Stat. Phys. 88, 991 (1997)
[5] H.A. Kramers, G.H. Wannier, Phys. Rev. 60, 252 (1941)
[6] L. Onsager, Phys. Rev. 65, 117 (1944)
[7] E. Callen, D. Shapero, Phys. Today Juli 1974, S. 23
[8] E.E. Peters, Chaos and Order in the Capital
Markets, Wiley & Sons, N.Y., 1991
[9] Yi Liu, J. P. Dilger, Biophys. J. 64 (1993) 26
[10] G.H. Wannier, Phys. Rev. B79 (1950) 357
[11] J.J. Hopfield, Proc. Natl. Acad. Sci. USA 79 (1982) 2554;
A. Engel, A. Zippelius, Phys. Bl., Januar 1996, S. 33;
R. Männer, R. Lange, Phys. Bl., Mai 1994, S. 445
[12] G.A. Kohring, J. Phys. I France 6 (1996) 301
[13] R.N. Mantegna, H.E. Stanley, Econophysics,
Cambridge University Press, im Druck